Zur Medieval and Renaissance Music Conference 2024 in Granada

Tagungsbericht von Tobias Haueise

Welche Klangräume eröffnete ein Kloster im 12. Jahrhundert? Wie wurde Musik in der frühen Neuzeit gehört? Welche Interaktionen lassen sich unter Berücksichtigung transkultureller Prozesse in der Musikpraxis aufdecken? Und welche Auswirkungen hatten einschneidende historische Ereignisse, wie die Eroberung von Granada durch die Reyes Católicos Isabella I. von Kastilien und Ferdinand II. von Aragón, Reformation oder die Säkularisierung, auf die (musikalischen) Akteure ihrer Zeit? Fragestellungen wie diesen widmete sich die Medieval and Renaissance Music Conference (MedRen), die zwischen dem 6.–9. Juli 2024 an der Universität Granada stattfand.

Mit über 250 Referaten in bis zu sechs parallelen Panels, 22 Posterbeiträgen und zwei Keynote-Vorlesungen deckte das Programm entlang der ausgewiesenen Kernthemen Soundscapes (Klangwelten), Koexistenz von Kulturen, Hörpraxis und -geschichte, religiöse Reformen, Verbreitung von Musikdrucken und musikalische Praktiken von Frauen eine große Bandbreite an Themen ab. Abgerundet wurde das Programm durch den Besuch des Manuel de Falla Archivs, des Centro de Documentación Musical de Andalucia oder der Capilla Real in der Kathedrale von Granada, sowie durch zwei Konzerte mit dem Instrumentalensemble La Danserye aus Murcia (A musical walk in sixteenth-century Granada), der Schola Antiqua aus Madrid und dem Vokalensemble Sourcework aus Boston, die gemeinsam Sebastián de Vivancos Missa super octo tonos um ein Chorbuch versammelt aus Originalnotation aufführten. Die Quellen zu beiden Konzerten konnten während der Archivbesuche in Augenschein genommen werden.

Wissenschaftlich wurde das Kernthema Soundscapes neben Eduardo Carrero Santamarías Keynote (Sounding the Soul in Medieval Monastic Spaces), die über einen architekturhistorischen Zugang auf die vielfältigen Einflussfaktoren für die Wahrnehmung von Klängen, insbesondere im klösterlichen Raum, aufmerksam machte, insbesondere durch zwei Themensitzungen der Arbeitsgruppe Auditory History der International Musicological Society (IMS) in den Blick genommen. Unter dem Vorsitz von Vincenzo Borghetti, Tim Shepard und Judith Haug boten die Sitzungen neue Perspektiven auf den Diskurs um Klangwelten der frühen Neuzeit. Abseits von großen Städten oder Klöstern waren die Ausgangsbasis der Untersuchungen Fragen nach dem Klang des italienischen Landlebens zwischen 1400–1650, wie musikalische und klangliche Praktiken die alltäglichen Erfahrungen auf dem Land charakterisierten und wie diese Erfahrungen kreativ produktiv gemacht wurden. So untersuchte Chriscinda Henry in ihrem Beitrag (Rural Soundscapes Real and Imagined: Music and Villa Culture in the Veneto, ca. 1500–1520) die Idealisierung der Klanglandschaft im Veneto des frühen 16. Jahrhunderts durch pastorale Gemälde, Drucke und Zeichnungen von Künstlern wie Tizian oder Palma Vecchio und zeigte, wie die venezianische Elite in der Villenkultur zwischen natürlichen und von Menschenhand geschaffenen Klängen sowie zwischen antiken und modernen Instrumenten unterschied und eine harmonische Gemeinschaft von Menschen und mythologischen Wesen imaginierte. In seiner Untersuchung von polyphonen Gesängen des 15. und frühen 16. Jahrhunderts mit norditalienischen Dialekten bzw. nicht-höfischen Themen ging Giovanni Zanovello (Popularizing and Rural Elements in Italian Songs, ca. 1500) der Frage nach, ob Teile des musikalischen und textlichen Materials auf einen Ursprung im ländlichen Raum zurückzuführen sind. Der Blick auf das Geschehen abseits größerer Städte fokussiert außerdem die Lebensrealität der meisten Menschen und rückt gleichermaßen auch deren individuelle Erfahrungen ins Zentrum: wie formt Klang, in Kombination mit anderen kulturellen Praktiken wie beispielsweise Tanz, Gemeinschaft und Identität? Werden Zugehörigkeit, Ausgrenzung und der Ausdruck sozialer, religiöser oder politischer Identitäten beeinflusst? Die Beiträge von Helen Coffey (Dance and Difference in the Holy Roman Empire of Maximilian I), Tin Cugelj (Thunder, Songs, and Whistles: Ad-hoc Communities of Early Modern Pilgrimage), Alexandros Maria Hatzikiriakos (Noisy Venetians: Sound and Propaganda in Early Modern Crete) und Salih Demirtaş (Evliyâ Çelebi’s Multisensorial Atmospheres of Seventeenth-Century Ottoman Istanbul) untersuchten Tänze und Tanzmusik als soziale Marker der Interaktion zwischen urbaner und höfischer Elite, die Rolle von Musik und Geräuschen in der Bildung von ad-hoc Gemeinschaften während frühneuzeitlicher Pilgerreisen, am Beispiel der venezianischen Minderheit auf Kreta im frühen 17. Jahrhundert den Einsatz lauter Geräusche und Klänge als Mittel der Selbstdarstellung und politischen Propaganda, um ihre Identität und Hegemonie in der urbanen Umgebung zu bewahren oder wie die Reiseberichte in Evliyâ Çelebis Seyahatnâme durch detaillierte Beschreibungen von Gerüchen, Geräuschen und anderen Sinneseindrücken das historische und soziale Gefüge der Stadt einfingen. 

In insgesamt drei Panels wurde die Rolle von Frauen in der frühneuzeitlichen Musikkultur in den Blick genommen und beleuchtet, wie Musik und ihre Symbolik zur Konstruktion und Ausdruck weiblicher Identität, Spiritualität oder Macht in der Gesellschaft dienten. In ihren Beiträgen widmeten sich Ascensión Mazuela-Anguita (Devotional Music and Maternity in the Early Modern Hispanic Context: The Missa pro mulieribus pregnantibus), María José Iglesias und Mireya Royo (Marcas sonoras femeninas a través de las prácticas musicales devocionales en la ciudad de Valencia en los siglos XVI y XVI), Daniela Graca (Performing Sixteenth-Century Womanhood in Song: Theology of Gender in Domenica da Paradiso’s laude) sowie Soterraña Aguirre Rincón (Pernicious or virtuous women: the choice of the title ‘Silva de sirenas’) der Bedeutung und musikalischen Ausgestaltung von Messen und Andachten zu Ehren schwangerer Königinnen im hispanischen Kontext, den musikalischen Aktivitäten von Nonnen in Valencia im 16. und 17. Jahrhundert, einer Neudeutung von Weiblichkeit und Körperlichkeit als Tugend in der Geschlechtertheologie von Domenica da Paradiso (1473–1553) und nicht zuletzt der Symbolik von Sirenen als gefährliche Wesen und des subversiven Titelkonzepts Silva de sirenas für einen Druck für Vihuela.

Neben der Auseinandersetzung mit musikalischen Zeugnissen der Eroberung der Stadt Granada und der Übergabe der Alhambra im Jahr 1492, bot der Tagungsort auch nach Abschluss des offiziellen Tagesprogramms vielfältige Möglichkeiten zur weiteren Beschäftigung und Spurensuche – und nicht zuletzt Gitarrenklänge und andalusisches Lebensgefühl in der Altstadt am Fuße der Alhambra.